Die Illusion der perfekten Vollkommenheit – Wie Perfektionismus uns von uns selbst entfremdet
- Tom & Alex
- 9. Apr.
- 3 Min. Lesezeit
Perfektionismus ist eine der raffiniertesten Masken, hinter denen sich Angst verbirgt. Er erscheint edel, ehrgeizig, zielgerichtet – doch in Wahrheit ist er ein unbarmherziger Antreiber, der uns von unserem innersten Kern entfernt. Perfektionismus ist kein Streben nach Exzellenz, sondern ein Versuch, das Gefühl von Mangel, von Nicht-genügen, von Verletzlichkeit zu kontrollieren. Er entspringt einem tiefen inneren Zweifel an unserem ureigenen Wert.
Perfektionismus wurzelt selten in der Gegenwart – er ist meist ein Echo unserer Vergangenheit. In der Kindheit erleben viele von uns Ablehnung, Kritik oder gar Liebesentzug, wenn wir nicht den Erwartungen entsprechen. Aus diesen Erfahrungen entsteht ein inneres Programm: „Wenn ich perfekt bin, werde ich geliebt. Wenn ich Fehler mache, bin ich nicht sicher.“ So entsteht ein psychischer Schutzmechanismus, der darauf ausgerichtet ist, Schmerz zu vermeiden. Wir passen uns an, wir übererfüllen, wir entwickeln eine übertriebene Selbstkontrolle.
Doch mit der Zeit nistet sich dieses Muster tief in unserem Unbewussten ein. Es wird zur Normalität, zur Identität. Wir bemerken gar nicht mehr, dass wir getrieben sind. Der innere Antreiber – „Sei perfekt!“ – wird zur ständigen Hintergrundmusik unseres Lebens.
Perfektionismus wirkt auf mehreren Ebenen:
Wir stellen überhöhte Ansprüche an uns selbst, vergleichen uns ständig und erleben innere Unruhe, wenn Dinge nicht exakt so laufen, wie wir sie geplant haben.
Perfektionismus erzeugt Angst – vor Fehlern, vor Bewertung, vor dem Scheitern. Gleichzeitig führt er zu Scham, wenn wir uns selbst nicht genügen.
Die ständige Anspannung manifestiert sich in Erschöpfung, Schlafstörungen, Verspannungen oder psychosomatischen Beschwerden.
Wir verlieren die Verbindung zu unserem inneren Selbst. Die stille Weisheit in uns, die nicht bewertet, sondern einfach ist, wird überdeckt von der Lautstärke unseres inneren Kritikers.
Das Tragische am Perfektionismus ist: Er lässt uns vergessen, wer wir wirklich sind. Wir verlieren den Zugang zu unseren wahren Talenten, zu unserer Kreativität, zu unserer spielerischen Seite. Denn all das gedeiht nur im Raum des Vertrauens, nicht unter dem Druck der Selbstoptimierung.
Wenn wir alles kontrollieren wollen, bleibt kein Raum mehr für das Ungeplante, das Spontane, das Echte. Wir werden zu Schauspielern in unserem eigenen Leben – angepasst, überfordert, entfremdet.
Der Weg zurück beginnt mit einem Innehalten. Mit der mutigen Entscheidung, den inneren Antreiber zu entlarven. Die Frage ist nicht: Wie kann ich noch besser werden? – sondern: Was versuche ich zu vermeiden? Welcher Schmerz liegt unter meinem Perfektionsstreben?
Der erste Schritt ist das Mitgefühl. Nicht Selbstoptimierung, sondern Selbstmitgefühl heilt. Wenn wir beginnen, uns selbst mit liebevollen Augen zu sehen – auch in unserer Unvollkommenheit – beginnt die starre Maske des Perfektionismus zu bröckeln.
Es geht nicht darum, weniger zu leisten. Es geht darum, aus einem anderen Ort in uns heraus zu handeln – einem Ort, an dem wir bereits genug sind. Wenn wir diesen inneren Raum berühren, kehren unsere wahren Talente zurück. Sie sind nie verschwunden. Sie haben nur gewartet, dass wir aufhören, sie mit dem Panzer der Kontrolle zu ersticken.
Indem wir aufhören, einem Ideal hinterherzulaufen, kehren wir zu uns selbst zurück. Indem wir unsere Masken ablegen, beginnen wir, wirklich zu fühlen. Und indem wir das annehmen, was wir am meisten fürchten, befreien wir das, was wir am meisten lieben: Unsere Essenz. Unsere Seele. Unser wahres Selbst.
Wir sind nicht hier, um perfekt zu sein. Wir sind hier, um ganz zu sein. Und Ganzsein bedeutet: Nichts mehr von uns ausschließen. Alles darf dazugehören.
In dieser ganzheitlichen Annahme beginnt die eigentliche Reise – die Rückkehr zu einem Leben in Tiefe, Freiheit und Liebe.

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